2018 nach der aufklärung
Jean-Marc Seiler / Juni 2018
Der Krieg in Syrien ist weder ein Bürgerkrieg noch ein Religionskrieg. Es ist ein Krieg um Kontrolle
und Herrschaft über eine Region mit reichem Oel- und Gasvorkommen. Interesse an diesem Krieg haben
Energiemultis, Waffenproduzenten und zahlreiche Mächte, die ihren Einflussbereich in der Region sichern
oder vergrössern wollen. Der Krieg in Syrien bilanziert nach sieben Jahren 450 000 getötete Menschen
und macht über sechs Millionen zu Flüchtlingen im eigenen Land.
Zwischen Israel und den islamistischen Hamas fliegen Raketen auf Schulhäuser und Spitäler. Seit Jahrzehnten
töten sie gegenseitig ihre Kinder und sich selber. Historischer Konflikt. Religiöser Fanatismus. Wer versteht
sowas und wie gefährlich sind Glaubensbekenntnisse?
Im Nordirak schlachten Gotteskrieger Andersgläubige und veröffentlichen diese Hinrichtungen im Internet.
Wegmarken zum Gottesstaat. Farbfilme, wie man Köpfe mit dem Messer vom Hals trennt. Das Blut spritzt und der
Kopf wird in Siegerpose an den Haaren hochgehalten. Die Lippen am abgeschnittenen Kopf bewegen sich, man hat
den Eindruck, der spricht noch. Diese Bilder sind abrufbar auf allen Smartphons dieser Welt für alle Kinder
dieser Welt. Das Smartphon muss das kindliche Staunen verändert haben. Was geschieht, wenn die Kinder einmal
aufhören zu staunen?
Der Konflikt in der Ukraine entsichert die Waffenarsenale der NATO und militarisiert die Ostgrenzen der EU. Es wird
wieder aufgerüstet, europaweit, weltweit. Man trifft wieder Vorbereitungen für einen grösseren Waffengang.
In einem Spital für Ebolakranke in Uganda teilen sich zwölf Ärzte drei Paar Gummihandschuhe.
Der afrikanische Kontinent spült die Opfer der Ausbeutung durch die neokolonialistischen Mächte an die Mittelmeerküsten
Europas. Weltweit sind mehr als fünfzig Millionen Menschen auf der Flucht. Das ist der höchste Stand seit dem Zweiten Weltkrieg.
Agrochemiegiganten wie Monsanto (USA) oder Syngenta (CH) ruinieren mit Dünge- und Futtermittelprodukten Agrarland, Baumbestände
und Mischkulturen. Mit ihren Pestiziden und insektiziden fördern sie Monokulturen auf gigantischen Anbauflächen weltweit und
vernichten damit Tierarten und Insekten – auch Bienen. Mit chemischer Keule werden lebensnotwendige natürliche Kreisläufe und
Ökosysteme gestört und unterbrochen. Pestizide sind beständig. Auf den Böden, die sie vergiften kann über Generationen nichts
mehr wachsen. Schadstoffe gelangen ins Grundwasser, in Gewässer, in die Luft und schliesslich auf unsere Teller. Selbstverständlich
findet sich für jeden gefährlichen Eingriff ein Experte, der ihn in einem Gegengutachten als harmlos erklärt. Die EU hat 2017 die
Zulassung von Glyphosat um weitere fünf Jahre entschieden.
Der Lebensmittel- und Getränkekonzern Nestlé kauft rund um den Globus Rechte an Grundwasservorkommen und ist im Begriff ein
privates Monopol über die weltweite Wasserversorgung zu installieren. In Pakistan hat der Schweizer Konzern die
Grundwasservorkommen so stark ausgebeutet, dass die Bevölkerung keinen Zugang zu frischem Wasser hat. Auf dem afrikanischen
Kontinent besitzt Nestlé eine grosse Anzahl Nutzungsrrechte die es ihr erlaubt Grundwasser abzupumpen, in Flaschen abzufüllen
und den Einheimischen, die keine Trinkwasseranschlüsse in ihren Behausungen haben, zu einem Preis anzubieten, die sie sich
gar nicht leisten können. In den USA klagen Komunen gegen Abfüllwerke von Nestlé, weil der Grundwasserspiegel gesunken ist.
Auch hier schafft es die EU nicht, einen kriminellen Profitwahnsinn zu stoppen. Im Gegenteil: Der ehemalige französische Aussenminister
und heutige EU-Kommissar Michel Barnier beabsichtigte 2013 in der ganzen EU einheitliche Regeln zu schaffen, um die Privatisierungen
in der Wasserversorgung zu erweitern. Nach dem Erfolg einer Europäischen Bürgerinitiative musste das Vorhaben zurückgezogen werden.
Der Regenwald im Amazonasgebiet in Brasilien wird mit Hilfe staatlicher Korruption abgeholzt und abgebrannt, um Platz zu schaffen
für riesige Soja- und Mais-Monokulturen. Die Ernten werden exportiert als Tierfutter und Biotreibstoff für die Industrienationen.
Es macht wenige Grossgrundbesitzer ungeheuer reich, während die Landbevölkerung ums Überleben kämpft.
Der private globalisierte Geld- und Handelsstrom funktioniert wie geölt, gleichzeitig stehen Komunen und ganze Staaten vor dem Bankrott.
Die Schweiz verliert gerade ihren Mittelstand, den Lebensnerv dieses Landes seit Jahrhunderten und Garant für eine intakte Demokratie.
Kleinbauern, Hutläden, Metzgereien, der Werkzeugladen, der Lebensmittelladen, Buchhandlungen, auch Kneipen und viele andere können
dem Preisdiktat der von den Ladenketten und durch das Internet ins Land geschwemmten Billigwaren nicht standhalten. Selbst im
urhelvetischen Grossverteiler Migros steht auf praktisch jedem Nonfood-Artikel Made in China. Weniger Lohn als die Arbeitskräfte
in China erhalten nur noch die Textilarbeiterinnen in Pakistan oder BanglaDesh. Der in ganz Europa operierende amerikanische
Versandriese Amazon ist immer wieder in den Schlagzeilen, weil er zu niedrige Löhne bezahlt und sich hartnäckig weigert Tarifverträge
abzuschliessen. Dasselbe Unternehmen ist beispielsweise dafür verantwortlich, dass die kleinen Buchhandlungen verschwunden sind. Gegen
diese durch arbeitnehmerfeindliche Machenschaften erzwungenen Niedrigpreise kann kein seriöses Kleinunternehmen in Wettbewerb treten.
Die herrschende Wirtschaftslogik mit ihrem Rentabilitätswahnsinn haben die Schweiz zu dem verkommen lassen, was jede andere moderne
Demokratie heute auch darstellt: eine von wenigen Kapitaleignern kontrollierte Feudalherrschaft, die sich ihren privaten Gewinn- und
Machtanspruch in sogenanten Volksabstimmungen stets aufs neue bestätigen lassen. Sie drohen stets mit dem Verlust von Arbeitsplätzen –
entlassen aber tausende Mitarbeiter ins Sozialamt, sobald die Aktionäre nach Dividenden schreien. Sie behaupten
Wachstum, Produktion und Flughafenerweiterungen sind alternativlos. Hauptsache die neuen Landvögte befriedigen ihre private Goldrauschmentalität.
Die Banken erzielen für die wohlhabenden Kunden satte Gewinne, und das Beiseitegelegte des Kleinsparers schrumpft weil die Gebühren
höher sind als die Zinserträge. Zur Erinnerung: Die durch Grössenwahn in die Pleite getriebene UBS wurde 2008 mit vielen Milliarden
aus der Nationalbank gerettet. Da waren auch Steuergelder der Kleinsparer mit dabei. Ich muss mit keiner linken Gesinnung und mit
keinen Verschwörungstheorien sympathisieren um zu begreifen, dass ich von einer gut gekleideten und überaus freundlich agierenden
Schicht aus Superreichen ausgebeutet und von ihr rechtlich und wirtschaftlich abhängig gehalten werde. Ausbeutung kennt verschiedene
Leidensstufen. Der Begriff Working Poor scheint aus den Medien verschwunden – aber aktueller und allgegenwärtiger war er nie! «Früher
wähnten sich Sklaven nicht in Freiheit» steht auf einer Affiche zu lesen.
Das liberale Marktsystem, das angeblich alles von alleine regelt, gehorcht inzwischen einer Eigendynamik, die selbst von seinen Profiteuren
nicht mehr durchschaubar ist und sich tatsächlich von alleine zu regeln beginnt. «Die Giganten proben die Endlösung».
vorwort zum ausstellungskatalog
«alles will wachsen»
Jean-Marc Seiler / Januar 2005
Der europäische Mittelstand ist im Begriff sich aufzulösen. Die Flexibilität der Kleinunternehmer
ist angesichts der Machtfülle der Giganten und deren Preisdiktat zur Unbeweglichkeit erstarrt. Die Kleinen
müssen weg, denn sie bedienen einen lukrativen Restmarkt, den die Grossverteiler im Visier haben. Grossräumig
wird die Konkurrenz aufgekauft oder mit Wucherzinsen zur Aufgabe gezwungen. Mit Wettbewerb hat das nichts
mehr zu tun. Mit Chancengleichheit auch nicht.
Grosskonzerne lassen in Ländern produzieren, wo die Löhne am tiefsten sind, wo es keine oder nur unerhebliche
Umwelt- und Sicherheitsvorschriften zu befolgen gilt. Die meisten Produkte, die wir heute im Supermarkt kaufen,
werden in mehreren Ländern gefertigt und legen riesige Distanzen zurück, bis sie den Käufer erreichen. Ein
erheblicher Anteil an unseren Lebensmitteln wächst tausende Kilometer entfernt, wird chemisch behandelt um den
Transport zu überstehen und muss in gekühlten Behältern zu uns gelangen. Der Bedarf an Transportfahrzeugen und
Transportwegen nimmt ständig zu. Lebensmittel-, Handels- und Transportunternehmen praktizieren von niemandem
aufgehalten diesen oekologisch verhehrenden Unsinn, und sie haben dank ihrer Grösse die Macht damit die Politik zu
erpressen. So werden nicht etwa mit Konzerngeldern, sondern mit Steuergeldern Autobahnen verbreitert, Flugplätze
vergrössert und Löcher durch die Alpen gebohrt. Skrupellose Wachstumsfanatiker erfinden ununterbrochen Absatzstrategien,
die den Planeten zerstören und den Menschen zur Kaufkraft degradieren. Was den Wirtschaftsführern sinnvoll scheint und
von ihren folgsamen Handlangern in der Politik ausgeführt wird, ist eine katastrophale Entwicklung – die auch von der
EU keineswegs gebremst, sondern gefördert wird.
Die Fragen, wie weit denn die Machtwirtschaft in ihrer Rücksichtslosigkeit gehen darf, wie weit denn zur Selbstbefriedigung
einer Clique obszöner Aktionäre die ökologische Zerstörung fortschreiten darf, zerstreuen die Verantwortlichen mit dem Hinweis
auf Wohlstand und Arbeitsplätze. Welch eine zynische Argumentation angesichts der Tatsache, dass für die meisten Durchschnittsverdiener
nach den Überweisungen von Mieten, Krankenkassenbeiträge und all die anderen obligatorischen Fixkosten für den Wohlstand nichts mehr
übrig bleibt. Wer definiert denn schon diesen Begriff?
Uns geht es gut, meinen viele. Sie haben recht, solange sie nicht über ihre eigenen gepflegten Gärten hinausblicken und die
Perspektivlosigkeit einer desilusionierten Jugend nicht erkennen wollen. Dem Jugendlichen, der eine Lehrstelle sucht, wird schnell
deutlich gemacht, wer hier die Auswahl hat, wer hier selektieren darf. Es gibt keine sichere Jobs mehr. Selbst der Beruf, den sie
lernen kann in fünf Jahren überflüssig sein. Der Aufbau einer gesunden Existenz ist für junge Leute kaum mehr möglich. Die Gründung
einer Familie ist vielen zu riskant geworden. Schauen Sie in die Gesichter der Menschen und lesen Sie darin die Erklärung, auf wessen
Kosten sich unsere neofeudalistische Wirtschaftselite bereichert, die krankhaft damit beschäftigt ist, die Strategien der Ausbeutung
zu perfektionieren und die stets steigenden Miet- und Gesundheitskosten zu rechtfertigen, statt sie zu verhindern. – Nein, für gewöhnliche
Leute herrscht wenig Freude im Land. Es herrscht Existenzangst. Noch nicht für alle – jedoch für viele und mit zunehmender Tendenz.
Die direkte Demokratie erlaubt es jedem Einfluss zu nehmen auf das, was im Lande geschieht. Die real existierende Demokratie sieht
anders aus. Auch in der Schweiz. Wirtschaft und Industrie rekrutieren hochdotierte Meinungsmacher, die unterstützt von PR-Agenturen die
Politiker dazu zwingen ihre Profitinteressen der Konzerne als Volkswillen darzustellen. Lobbyismus kostet sehr viel Geld, über welches
nur Konzerne verfügen. Mit Unterstützung käuflicher Medien sind sie in der Lage gigantische Netzwerke aufzubauen in denen sie flächendeckend
Meinungsbildung verbreiten und Volksabstimmungen dirigieren können. Sowas geschieht immer still und unauffällig. Sie beeinflussen und manipulieren
in einer Ausdauer und Grössenordnung, die den kleinen Demokraten lautlos ersticken lässt. In einer derart durch Korruption zersetzten Demokratie
haben Bürgerin und Bürger weder die Mittel noch die Möglichkeit wichtige Entscheide zu beeinflussen. Sie stehen immer einer Bande von
Kapitaleignern gegenüber, die jede Kritik in der Luft zerreissen lässt und die Demokratie für ihre Profite laufend missbrauchen darf.
Warum stimmen wahlberechtigte Massen für die Zerstörung ihrer eigenen Lebensgrundlagen? Weil man ihnen für jedes verhinderte Grossprojekt
mit dem Verlust von Arbeitsplätzen droht. Die Wirtschaft denkt für uns. Vermeintlich. Sie will nicht, dass wir selber denken. Der denkende
Konsument ist die Horrorvorstellung der Aktionäre. So erklärt sich die europaweite Demontage der Demokratie. Sie werden es schaffen, wenn
wir uns ihnen nicht endlich in den Weg stellen.
Arroganz und Rücksichtslosigkeit spiegeln sich auf den polierten Konferenztischen in den Machtzentralen. Die verlogene Sprachgewalt der
Betrüger und die unterwürfige Sprachlosigkeit der Betrogenen ergänzen sich perfekt.
vorwort zur dokumentation «quattrotorre»
Seilers Architekturprojekt für eine Wohnbausiedlung
Eine Polemik von Jean-Marc Seiler, Mai 2017
Unterbringungspolitik
Wer in Zürich einer Schlange aus fünfhundert wartenden Menschen begegnet, weiss, hier ist Besichtigungstermin für eine
bezahlbare Wohnung. Vierhundertneunundneunzig von ihnen werden die Wohnung nicht erhalten, und auch keine Absage.
Das Objekt der Begierde befindet sich in einem alten Mehrfamilienhaus, das in absehbarer Zeit einem Neubau weichen muss,
weil die revidierte Bauordnung eine rentablere Ausnutzung von Boden und Bauhöhe erlaubt. Ganze Stadtteile werden den Bewohnern
entrissen und zerstört. Die verwurzelte Mieterschaft, die das Quartier mitaufgebaut und über Jahrzehnte mit Leben versorgte,
muss es verlassen, weil sie die Mietzinsen der modernen Schlafsilos nicht bezahlen können. Eine natürliche Ablösung der Generationen
ist nicht mehr möglich. Das stellt kein örtlich begrenztes Phänomen dar, sondern eine weltweite Entwicklung, die längst ihre
gefährlichen Auswirkungen spürbar gemacht hat.
Es entsteht der Eindruck, als wäre der moderne Geschäftsmann resistent gegenüber jedem sozialen Denkprozess. Zur Gewinnmaximierung
opfert die Immobilienbranche intakte Bausubstanz und Lebensräume eiskalten Neubauten. Einzug halten jetzt die jungen Gutverdiener
und Kurzzeitmieter, die Vertreter einer Ehrgeizgeneration, die künftige Elite, oft mit einem Bachelor geschmückt, oft eingeschränkt
gebildet aber durchsetzungsstark in ihrem Fach.
Die in den modernen menschenfeindlichen Wohnsiedlungen aufgebauten sozialen Spannungen sollen ausgerechnet von jener Politik entschärft
werden, welche die Bewilligungen für diese Unterbringungsmaschinen komplizenhaft durchwinkt und dabei selber kräftig dazuverdient.
Der professionell getarnten Korruption, dem erfolgreichen Lobbyistenverkehr, und, was besonders auffällt, dem ungehinderten Fusionieren
von Giganten stehen Wirtschafts- und Kartellgesetze gegenüber, die nicht zur Anwendung kommen. Warum nicht? Eine im Abhängigkeitszustand
erstarrte Gesellschaft bleibt in ihrer Tatenlosigkeit mitverantwortlich an solchen Vorgängen.
Die Zahl derer, welche die Mietzinsen nicht bezahlen können wächst, und sie ist nicht mehr so verschwindend klein, um zu übersehen,
wie krank das System in Wirklichkeit ist. Dass der Eigentümer aus längst amortisierten Immobilien Gewinne schöpft, dass also der Mieter
weit mehr bezahlen muss als die laufenden Kosten, die er tatsächlich verursacht – das ist genauer besehen nichts anderes als
Schutzgeldeintreibung und entspricht einer traditionellen Methode gewisser Herren, die in unseren Wohlstandsdemokratien frei herumlaufen
dürfen. Geschützt durch die Rechtssprechung bestimmen die wenigen Einfluss-Reichen den Tarif und treiben den Rest in die Abhängigkeit.
Der Immobiliensektor ist ein besonders ertragreiches Beispiel für dieses Geschäftsmodell.
Wer mit masslosen Ansprüchen laufend provoziert, dem wird die gestohlene Beute eines Tages wieder abgenommen. Das ökonomische Prinzip,
wie wir es gelernt haben und nach wie vor gelehrt wird, hat mit Respekt gar nichts, aber mit Rücksichtslosigkeit alles zu tun. Obgleich
die gefährlichen Schwachstellen und Wucherungen im System für alle deutlich sichtbar sind, scheint es unantastbar zu sein. Für jede
Beweislage findet sich eine andere, die sie widerlegen kann. Diese inflationäre Widerspruchkultur unter den Experten kann keine Gesellschaft
verstehen und sie wird sie auf die Dauer auch nicht ertragen können. Denn in diesem Widerspruch zerfällt das Kollektiv als solches und wird
handlungsunfähig. Alle Hinterfragungen und Analysen scheinen den einzigen Zweck zu verfolgen, den herrschenden Zustand zu bestätigen, statt
ihn endlich für alle verträglicher zu machen. Wenn beispielsweise die seit Jahren eingeforderte Reform des Schweizer Bodenrechts auch nicht
in weitester Ferne Konturen annimmt, erstaunt das in diesem Kontext keineswegs.
In den wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten hat sich seit dem Merkantilismus aus der Epoche des Frühkapitalismus im 16. Jahrhundert
nichts geändert. Er stand schon damals für das Bedürfnis sicherer Einnahmen. Jedoch nie zum Wohle der Untertanen, sondern zur Finanzierung
des Militärs, des Beamtenapparats und des repräsentativen Aufwandes der Feudalherren. Und wir verbringen heute noch unser Dasein in einem
ausschliesslich siegerorientierten Umfeld, das immer von Hochschulabsolventen zur Ausbeutung der Unterschichten ausgedacht wird.
Entscheidungsträger, Politiker und Ökonomen haben eine gemeinsame Charaktereigenschaft: sie können die Infragestellung ihrer Überzeugungen
nie zulassen. Folgerichtig laufen sie den sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen ins offene, freilich selbstgeschärfte Messer.
Verantwortung
Wie sich die Immobilien- und Baubranche seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges am Wiederaufbau bereichert und abzockt, wie sie sich an einem
Grundbedürfnis der Menschen derart masslos bereichern konnte und immer noch darf, müsste eigentlich allseits Empörung, Zorn und Wut auslösen.
Tut es aber nicht. Die Machenschaften und Korruptionsvorwürfe sind nicht nur bekannt, sie sind alle belegt. – Es löst nichts aus. Denn wer
nicht im Freien schlafen will, ist ihnen ausgeliefert. Sind wir das?
Sind solche Polemiken Übertreibungen von ewiggestrigen Kapitalismuskritikern, die nicht begreifen wollen, dass sich die Zeiten ändern und
mit ihr auch die Geschäfte und die Moral? Die Frage bleibt und sie soll nochmals gestellt sein: Wer hat denn nichts begriffen, die Konzerne,
die bestreiten, dass sie den Planeten kaputtoptimieren, oder die Kritiker, die es ihnen seit Jahren beweisen?
Wann übernimmt ein aktiengebundener Unternehmer Verantwortung, indem er aufhört seine Kritiker der Lüge zu bezichtigen und die gefährliche
Talfahrt endlich stoppen lässt, um in nüchterner Selbstreflexion die Weiterfahrt wenigstens in Frage zu stellen?
Wettbewerb
Der Generalunternehmer verteilt Aufträge an zahlreiche Zulieferbetriebe und Dienstleister, die sich mit Provisionen, die der Generalunternehmer
erwartet, erkenntlich zeigen (müssen). Die Zulieferer brauchen Material, wofür sie andere Zulieferer berücksichtigen, die sich ihrerseits mit
Provisionen, die der Auftraggeber erwartet, erkenntlich zeigen (müssen). Jeder Beteiligte verrechnet nicht nur das, was er braucht, oder das,
was er tut, sondern zusätzlich einen Betrag, den er dem Auftraggeber verspricht, damit er den Auftrag bekommt, damit er also das tun kann,
wofür er später eine Rechnung schreiben darf. Zumal in dieser Rechnung die Provisionsprozente selbstverständlich einkalkuliert sind, bezahlt
er eigentlich gar keine Provisionen, aber das Produkt verteuert sich. Was das für den Endverbraucher bedeutet, kann man sich leicht ausrechnen.
Das nennen die Beteiligten nicht Korruption, sondern Wettbewerb. Und weil es alle so machen, machen es eben alle so. Aus dem Material, das
verbaut wird und aus den Dienstleistungen die verteilt werden, keimen diese lukrativen Weiterreichungsgebühren und gedeihen prächtig.
In diesem Gewinnmargen- und Provisionszirkus fliessen enorme Gelder bevor nur ein Finger zur Arbeit gekrümmt ist. Hinzu kommen schliesslich
die Bausummenprozente des Unternehmers und die Beraterhonorare der Geldbeschaffungsanwälte und oben drauf setzen die Investitionsholding und
die Banken ihre schweren goldenen Kronen.
Man rechnet, wenn solche Bauvorhaben mit Anstand und ohne Gier, also ohne den verschwenderischen Gefälligkeitenmarathon vonstatten ginge,
könnte sich die Bausumme halbieren. Dort, wo die Kostenvoranschläge massiv überschritten werden, was besonders bei Grossprojekten üblich ist,
sind die Schmiergeldaufwendungen in der Offerte schlicht "vergessen" worden. Die sind auch schwierig auszuweisen, wenn es sich um die
öffentliche Darstellung eines Projektes handelt, das die Zustimmung des Stimmvolkes voraussetzt.
Nicht nur für Neubauwohnungen bezahlen wir in der Regel ungerechtfertigte Mietzinsen. Auch für den Altbaubestand erfinden Hauseigentümerverbände
zahlreiche hemmungslose Tricks, die sie mit genügend Lobbyarbeit auch gesetzeskonform machen. Beispiel: In Anwendung der Argumentation vom
ortsüblichen Mietzins dürfen sich die Hausbesitzer gegenseitig die Mieteinnahmen hochschaukeln. Auch das ist ein Tatbestand aus dem Wirtschaftsrecht,
denn hier handelt es sich um versteckte Preisabsprachen.
Tatsächlich kostet alles mehr als es tatsächlich kostet.
Man stelle sich vor
Man stelle sich vor, es gäbe Gesetze, die es dem Hausbesitzer verbieten, aus den Mietzinseinnahmen von Immobilien, die amortisiert sind,
Profite zu erzielen (Schutzgelder). Man stelle sich vor, aus einer Baustelle dürfen ausser Lohn für geleistete Dienste und verbautes Material,
keinerlei Gewinne in Rechnung gestellt werden. Man stelle sich vor, eine Wohnungsmiete dürfe sich nur aus den effektiven Baukosten ergeben,
den Leihgeldzinsen und einem Fond für Instandhaltungskosten, sowie aus den Verwaltungsaufwendungen. Alles ohne Günstlingszahlungen und längst
abgegoltene Aufwendungen. Und man stelle sich vor, das alles wäre transparent gelistet und einsehbar. – Wie die betroffene Branche darauf
reagiert, stelle man sich besser nicht vor.
Der Genossenschaftliche Wohnungsbau
Der in der Schweiz vielerorts etablierte Genossenschaftliche Wohnungsbau ist gewiss ein Musterbeispiel für ein sozialverträgliches Wohnungsangebot.
Es ist bedauerlich, dass es zu wenige davon gibt. Die meisten nehmen keine Anmeldungen mehr entgegen, weil die Wartelisten zu lang sind.
Aber selbst solche Wohnprojekte werden auf die klassische Art durch Grosskonzerne und Generalunternehmer realisiert. Das heisst, es ist
davon auszugehen, dass sich auch an diesem Modell die üblichen Mitmischler treffen und sich auf Kosten anderer unanständig bereichern.
Das Erstellen von Wohnraum, der menschenwürdig und gleichzeitig erschwinglich ist, gelingt nur dann, wenn die daran Beteiligten nicht auf
Lohn, jedoch auf Profit verzichten. Unter Profit verstehe ich Gelder die ausserhalb tatsächlicher Arbeit generiert werden. Gute Arbeit
soll gut bezahlt sein. Die Endverbraucher sind es allerdings leid, Provisionen und Schutzgelder zu finanzieren.
Wohnen
Wer den Versuch unternimmt, sich dem Thema Wohnarchitektur zu nähern, muss sich die berechtigten menschlichen Grundbedürfnisse und die
natürlichen Minimalbedingungen in Erinnerung rufen. Dabei geht es nicht nur um Platz zur Befriedigung einiger Vital- und Triebbedürfnisse.
So wichtig wie vergessen sind die konstanten Objektbeziehungen und die Verhältnisse zu den Proportionen und Spannungen, sobald wir uns mit
den Augen orientieren. Der gebaute Raum und die Gegenstände, die ihn füllen oder leer lassen, beeinflussen unsere Kondition.
Der Mensch beansprucht Orte der Begegnungen und Beziehungen, aber auch Entspannungs- und Wiederherstellungsorte. Er braucht Luft- und
Lichtbereiche, die er aufsuchen kann. Nicht nur in den Sommerferien, sondern genau dort, wo er lebt und arbeitet. Das eigene bepflanzbare
Terrain ist ein Thema, das an Aktualität zunimmt und vielerorts Interesse weckt. Die käuflichen Gemüse und Salate enthalten heute so viel
Chemikalien aus der industriellen Landwirtschaft, dass wir es aus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr essen mögen. Der kleine Gemüsegarten
vor dem Küchenfenster ist ein Schritt in die Richtung einer giftärmeren Versorgung, die wir von der Lebensmittelindustrie nicht erwarten
können, solange sich die EU-Bürokraten die Grenzwerte der Pestizidbelastungen nicht von unabhängigen Wissenschaftlern empfehlen, sondern
von den Lobbyisten der Nahrungsmittelkonzerne vorschreiben lassen. Private Terrassen- oder Dachbepflanzungen sind auch im Mietsektor möglich.
QUATTROTORRE ist nicht das einzige Siedlungsprojekt, das in diese Richtung zielt.
Gemeinwohl und Gesundheit sind heute der Rendite untergeordnet. Die Neubauten werden unter Ausbeutungskriterien erstellt und angeboten.
Der von diesem untauglichen System bevormundete Mensch wird sich derweil unter völlig anderen Gesichtspunkten sein Recht auf kostenrelevante
Mietzinse erwirken.
Architektur
Die langweilige Rentabilitätsästhetik der zeitgenössischen Architektur- und Stadtplanung schafft Unwirtlichkeit und einschüchternde
Umgebungsbedingungen. Hier wird Unterwerfungsarchitektur gepflegt, die mich fatal an die kolossale Formengestik jener Arenen erinnert,
die den Nationalsozialisten für ihre Massenrituale dienten.
Dass ein Baukörper seine Funktion erfüllt ist wichtig. Ebenso wichtig ist aber auch die Art und Weise, wie er sich uns entgegenstellt.
Der Begriff Funktionalismus wird gerne falsch interpretiert. Im 19. Jahrhundert beschäftigten sich die Architekten Semper, Sullivan oder
Adler in theoretischen Schriften über Funktion und Form. Sie entwarfen und bauten Hochhäuser und Grossbauwerke, die in ihrer feingliedrigen
und in spannungsreichen Proportionen gestalteten Formensprache von einer Professionalität zeugen, deren Spuren wir bestenfalls noch in
wenigen teuren Repräsentationsbauten wiedererkennen. Der Mut zur Ornamentik und zur planerischen Sorgfalt scheint die Architekten verlassen
zu haben. Selbst wenn die Funktion die Form bestimmt (Sullivan), muss sich das nicht zwangsläufig darauf beschränken, auf einer möglichst
grossen Fläche möglichst viele Löcher zu verteilen. Ästhetik entsteht im Wahrnehmen vermeintlicher Nebensächlichkeiten und dem darauf
folgenden Umgang mit ihnen.
Eine am Ende des 19. Jahrhunderts errichtete Kaserne hat erstaunlicherweise meistens mehr Charme, als eine Wohnbausiedlung aus dem 21. Jahrhundert.
Auf die abweisende Architektur, die uns im urbanen Raum an jeder Ecke im Wege steht, reagieren wir mit Unbehagen, bewusst und unbewusst.
Es beeinträchtigt unsere Gesundheit mehr, als wir es annehmen wollen.
Man muss aufhören, die Erkenntnisse über den Zusammenhang von Architektur und menschlicher Kondition, unter dem Vorwand ökonomischer
Zwänge zu leugnen.